Die Anlehnung – das verbindende Element

di Katrina Wüst

Der Grundsatz, dass Pferdeausbildung und Ausbildungsskala untrennbar miteinander verbunden sind gilt für alle, die sich ernsthaft mit der klassischen Reitlehre beschäftigen. Die Ausbildungsskala steht mit ihren sechs Punkten für ein ganzheitliches Ausbildungssystem. Auf Takt und Losgelassenheit  folgt als Drittes die Anlehnung – das verbindende Element zwischen Reiterhand und Pferdemaul. Kein anderer Punkt der Ausbildungsskala sorgte in der Vergangenheit für mehr Diskussionsstoff. Zu eng, zu tief, ein offenes Maul, Zungenprobleme  – die Anlehnung war und ist immer für Schlagzeilen gut. Grund genug, das Thema aufzuarbeiten.

Anlehnung. Die Begriffserklärung

Was Anlehnung ist, lässt sich kurz zusammenfassen: Der Begriff steht für eine weiche, beständige Verbindung zwischen Reiterhand und Pferdemaul.

Anlehnung. Die Entstehung

Eine korrekte Anlehnung entsteht durch die treibenden Hilfen des Reiters, mit denen die Hinterhand des Pferdes aktiviert wird.  Diese vermehrte Energie aus der Hinterhand wird über den schwingenden Rücken des Pferdes und die losgelassene Oberlinie bis zum Gebiss „transportiert“, das Pferd tritt also im Idealfall bildlich von hinten nach vorne vertrauensvoll ans Gebiss heran. Auf keinen Fall darf Anlehnung durch Beizäumen mit einer rückwärts wirkenden Reiterhand erfolgen.

Anlehnung. Das Ideal

Alles, was wir unter dem Begriff einer korrekten Anlehnung verstehen, lässt sich an drei Gesichtspunkten festmachen: Erstens dem Pferdehals, der sich je nach Versammlungsgrad aufwölben bzw. in der Verstärkung im Rahmen erweitern soll.

Als zweites sind Genick sowie Stirn-Nasenlinie zu nennen. Das Genick sollte immer losgelassen sein und in der Regel den höchsten Punkt des Pferdehalses markieren.  Ausnahme: Das Zügel-aus-der-Hand-kauen-lassen (let the horse stretch to the long rein), bei dem das Pferd sich vertrauensvoll vorwärts-abwärts an die Reiterhand heran dehnt. Bei allen anderen Lektionen sollte die Stirn-Nasenlinie leicht vor oder an der Senkrechten bleiben.

Das Pferdemaul ist das dritte und möglicherweise wichtigste Kriterium. Wünschenswert ist es stets geschlossen und ruhig kauend. Die Zunge ist nicht zu sehen, idealerweise bildet sich ein leichter Schaum.

Anlehnung. Die häufigsten Fehler

Es gibt unterschiedliche Anlehnungsfehler, die allerdings oft kombiniert mit anderen Schwächen auftreten und meist auf einen Mangel an Losgelassenheit der Rückenmuskulatur und an genereller Durchlässigkeit hindeuten. Am gravierendsten für den Richter sind Zungenfehler, bei denen die Zunge über das Gebiss genommen und seitlich deutlich erkennbar herausgestreckt wird. Das muss laut Regelwerk zu einer Note von maximal fünf führen – jedoch nur wenn der Richter es auch wirklich sehen kann. Wurde die Lektion ohnehin schlecht ausgeführt, wertet man den Umständen entsprechend tiefer. Auch offene Mäuler, bei denen die Zunge hochgezogen oder sogar nicht mehr zu sehen ist, gelten als stark fehlerhaft.

Großzügiger sind die Richter, wenn das Pferd die Zungenspitze vorne nur leicht zwischen den Zähnen herausschauen lässt bzw. sich immer mal wieder kurz mit seiner Zunge über die Lippen fährt. Aber auch für diese unerwünschte Eigenart müssen Abzüge gemacht werden, um Unterschiede zu einem korrekt geschlossenen Maul deutlich zu machen. So sieht es auch die deutsche Richtervereinigung.

Neben Maul- und Zungenproblemen kann sich das Pferd durch eine falsche Halshaltung einer korrekten Anlehnung entziehen, d.h. zu eng, zu tief (das ist nicht das gleiche!), mit falschem Knick am dritten Halswirbel, über dem Zügel oder mit aktiver absoluter  Aufrichtung des Pferdehalses durch die Reiterhand. Zur Erklärung: Ein Pferd kann zu eng sein, ohne zu tief zu sein. Dabei ist das Genick zwar der höchste Punkt, aber die Stirn-Nasenlinie kommt hinter die Senkrechte und der Hals wirkt unnatürlich „aufgekröpft“. Besonders negativ ist diese Haltung, wenn sich das Pferd dabei noch den treibenden Hilfen entzieht und hinter den Zügel kommt, denn dann ist der Energiefluss aus der Hinterhand über den Rücken bis zum Maul gestört. Anders herum kann ein Pferd auch zu tief sein, ohne zu eng zu sein, wenn es sich auf den Zügel legt.

Natürlich gibt es noch weitere Anlehnungsschwierigkeiten: Pferde, die den Unterhals herausdrücken und durchgehend nicht sicher am Zügel sind bzw. momentweise über den Zügel kommen wie z.B. beim Rückwärtsrichten oder beim Einleiten von Paraden. Auch lassen Probleme mit der korrekten Genickstellung z.B. bei Seitengängen auf einen Mangel an Losgelassenheit und Durchlässigkeit im Ganaschenbereich schließen, der eine korrekte Anlehnung verhindert.

Anlehnungsprobleme. Die Ursachenforschung

Auch wenn die Ursachen bei gravierenden Anlehnungsproblemen unterschiedlich sein mögen, gemeinsam ist allen – gesetzt die Ausrüstung passt und Maul und Zähne sind kontrolliert – dass sie auf einen Missstand in der Ausbildung hindeuten. Neben Reiterfehlern spielen hier grundsätzliche Fehler eine Rolle, die nur durch eine bessere Gymnastizierung des Pferdes zu korrigieren sind. Pferde, die sich nicht tragen können, stützen sich häufig auf dem Zügel, so dass der Reiter die „Versammlung“ mit der Hand erhalten muss; Pferde, die den Rücken blockieren finden nicht zur Rahmenerweiterung in Verstärkungen; Pferde, die nicht auf halbe Paraden reagieren, sperren das Maul auf … und, und, und … für alles kennt die Skala der Ausbildung die Ursachen.

Manchmal ist es allerdings auch viel simpler: Gerade wenig erfahrene Reiter haben noch nicht immer das Gefühl für die korrekte Anlehnung und Aufrichtung; sie sind froh, dass sie ihr Pferd so schön sicher „am Band“ haben und stellen es durchgehend zu eng oder zu tief ein – ein häufig zu beobachtendes Phänomen, das im Prinzip leicht zu ändern ist, und dem Trainer und Richter energisch entgegentreten müssen.

Anlehnungsprobleme. Die Konsequenz

Anlehnungsprobleme im Verlauf einer Dressurprüfung werden vom Richter mit Abzügen bei der Notenvergabe geahndet – sofern er sie sehen und beurteilen kann, was direkt von hinten nicht immer gegeben ist. Allerdings muss unterschieden werden zwischen einem momentweisen Eng-Werden des Halses wie es bei den besten Reitern z.B. beim Rückführen aus einer Verstärkung einmal vorkommen kann, und einem dauerhaft hinter der Senkrechten eingestellten Pferd mit offenem Maul. Während ersteres meist nur mit einem kleinen Abzug bedacht wird, fällt letzteres schwer ins Gewicht. Gerade die Seitenrichter sind bei diesen Pferden oft strenger, haben sie die falsche Optik doch durchgehend vor Augen. Zum Glück haben wir in Deutschland noch die vier Schlussnoten, so dass der Richter in der Durchlässigkeits- wie auch in der Reiternote diesbezüglich noch einmal ein Zeichen setzen kann.

Wie bei allem gilt auch hier: Das Pferd muss in seine Gesamtheit betrachtet werden. Das bedeutet: wir müssen unterscheiden: ist es a) ein durchgängiger Ausbildungsfehler, der sich nicht nur in einer schlechten Anlehnung niederschlägt, sondern mit Problemen in Losgelassenheit, Durchlässigkeit und Versammlung einhergeht, ist es b) ein kleiner momentaner Mangel, bei dem das Pferd prinzipiell über eine korrekte Gymnastizierung verfügt, oder hat c) das Pferd gar von Haus aus einen tief angesetzten Hals, der nur optisch immer etwas kurz erscheint. Das ist ein großer Unterschied! Das eine ist ein Ausbildungsproblem, das andere reine Anatomie. Dem Blick des geschulten Betrachters, Richter, Reiter, Trainer oder dem fachkundigen Zuschauer sind die Zusammenhänge schnell erkenntlich, der Laie zieht nicht immer die richtigen Schlüsse.

Gelegentlich finden sich Pferde, bei denen fast alles stimmt: Das Pferd wirkt losgelassen, geht zufrieden und in gutem Rahmen, der Reiter wirkt dezent und weich ein … und dennoch ist das Maul offen. Kleine Maulspalte mit zu viel Eisen drin? Blütermaul? Wer weiß? Je nachdem kann dies zu unterschiedlichen Bewertungen führen, ist aber stets den Fällen vorzuziehen, bei denen durch strammes Anziehen von Nasen- und Sperrriemen ein geschlossenes Maul vorgegaukelt werden soll. So wie international nach jeder Prüfung das Gebiss geprüft wird, sollte auch bei uns auf den Abreiteplätzen der Blick vermehrt auf die Zäumung gerichtet werden!

In Jungpferdeprüfungen fließen Anlehnungsproblematiken in die Noten für Durchlässigkeit und den Gesamteindruck ein. Die Qualität der Grundgangarten bleibt davon unberührt. Ein Herausheben beim Angaloppieren zur Findung des Gleichgewichts oder ein kurzes Gegen-die-Hand-Gehen beim Durchparieren kann bei Jungpferden vernachlässigt werden. Permanente Anlehnungsfehler müssen aber auch hier in die Beurteilung einfließen. Denn dann ist der Reiter mit seinem Pferd nicht auf dem richtigen Weg.

Anlehnungsprobleme. Die Lösung

Zur Verbesserung der Anlehnung ist das schwungvolle Vorwärtsreiten über den losgelassenen Rücken das erste Mittel, damit das Pferd wieder an die Hand tritt und nicht mehr hinter den treibenden Hilfen des Reiters bleibt. Durch z.B. das Reiten von Übergängen innerhalb einer Gangart oder in ein höheres Gangmaß und zurück lernt das Pferd, halbe Paraden zu akzeptieren – eine unabdingbare Voraussetzung für die Weiterentwicklung seiner Versammlungsfähigkeit und Durchlässigkeit. Hierbei muss das Pferd lernen sich zu tragen und unabhängig von der Hand des Reiters die Versammlung zu halten. Eine permanente energetische Bewegung durchs Pferd vom Hinterbein zum Maul und durch halbe Paraden wieder zurück aufs Hinterbein – dieses Prinzip muss greifen. Dann kommt der Reiter immer wieder zum Nachgeben, das Pferd bekommt Vertrauen in die Reiterhand und sucht weiter die Anlehnung. 

Anlehnung. Die Mythen

Mythos: Ein gut schäumendes Maul ist Zeichen einer guten Anlehnung. Das ist leider nicht immer so. Zumindest nicht, wenn nachgeholfen wird, wie das seit einigen Jahren immer mal wieder der Fall ist. Mit Hilfe von Marshmallow-Fluff oder ähnlichen zuckrigen Substanzen versuchen Reiter vergeblich, die Richter hinter das Licht zu führen und sich den Konkurrenten gegenüber einen ungerechtfertigten Vorteil zu verschaffen. Dem will die FEI ab 2022 durch intensivere Kontrollen seitens der Stewards entgegenwirken. Allerdings bleibt der künstliche Schaum schwer nachzuweisen, vor allem, wenn er nach der Prüfung schon an den Lippen angetrocknet ist.

Anlehnung. Die Entwicklung

Ich möchte energisch widersprechen, dass früher alles besser war. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass auch vor 40 – 50 Jahren Anlehnungsschwierigkeiten zu den Kernproblemen zählten. Die Qualität der Pferde war nicht so gut wie heute und so mancher Reiter hat gehofft, Pferde mit wenig Gangwerk durch Gegenhalten mit der Hand zum großen Traben zu bringen. Auch die Kandaren waren länger, da hat sich einiges getan. Vieles ist besser geworden.  

Hinzukommt, dass wir Richter dem Thema noch mehr Gewicht geben als in vergangenen Tagen. Der Tierschutzgedanke wird immer mehr zur Maxime des Richtens gemacht und das ist gut so. Insgesamt hat sich der Dressursport auf allen Ebenen weiterentwickelt. Auch was die Anlehnung betrifft.

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